Dieser Artikel ist eine kleine Streitschrift.
Warum?
Hin und wieder treibt mich die Neugier an und ich schaue in den internen statistischen Daten die Zugriffszahlen für die Seite an. Ebenso schaue ich, welche Suchbegriffe in der Statistik vorne liegen, also was die Internetnutzer zuvor in ihren Suchmaschinen eingegeben haben, als sie auf unserer Seite gelandet sind.
Wir versprechen uns davon einen kleinen Einblick, was die Leser interessiert, damit wir dies bei der Themenwahl oder der „Reaktivierung“ älterer Archivtexte berücksichtigen können.
Die Statistik erlaubt einen Blick in einen begrenzten Zeitraum, was also gerade akut ist, aber auch längere Zeiträume wie ein Quartal, ein Jahr oder eben die gesamte Zeit, seit es diese Seite gibt.
Es ist vielleicht für Sie, liebe Leserinnen und Leser, interessant, zu erfahren, was Ihre Mitmenschen am meisten an unserer Seite interessiert hat. Das Ergebnis ist erstaunlich, erschreckend und frustrierend. In allen möglichen Varianten der Suchbegriffe ist das absolute Top-Thema, was das Interesse der Leser angeht, der Beitrag über Wollpullover für Schildkröten. Demzufolge führt dieser Beitrag die Zugriffsstatistik auch mit Abstand an.
Die Liste ist mit immer anderen Wortkombinationen ellenlang. Angst macht mir, dass es so viele Menschen gibt, die ganz offensichtlich Interesse an diesen Wollpullovern haben. Ziehe ich mal diejenigen ab, die vielleicht nach einem Pullover mit Schildkrötenmotiven gesucht haben, bleiben trotzdem mehrere tausend Suchanfragen seit im Dezember 2013 bei uns der Beitrag erschienen ist. Die Suchanfrage „Strickkleidung für schildkröte“ hingegen ist sehr eindeutig.
Warum dieser Unfug?
Strickkleidung für Schildkröten ist und bleibt Unsinn. Bekanntlich sind Reptilien wechselwarme Tiere, was bedeutet, dass sie keine eigene Körperwärme aufbauen sondern sich diese aus ihrer unmittelbaren Umgebung holen. Allein dadurch wärmt sich die Schildkröte auf und allein dadurch kühlt sie auch wieder ab. Jegliche Strickmode ist also vollkommen sinnlos, denn es gibt – anders als bei Warmblütern – keine eigene Körperwärme, die dadurch im Körper gehalten werden könnte. Ergo besteht auch keine Notwendigkeit, die Schildkröte vor Unterkühlung zu schützen, ihr Organismus nimmt keinen Schaden, es sei denn natürlich, sie wird dauerhaft zu kalt gehalten, was aber ein anderes Thema ist.
Außerdem: Die Anatomie der Panzer der Tiere ist so gestaltet, dass Schildkröten sich nicht nur sehr gut schützen und durch die Farbmuster mit der Umgebung“ verschmelzen. Die Evolution hat die Panzer sich auch so entwickeln lassen, dass Schildkröten in der Lage sind, sich mit dieser Körperfläche so in die Sonne zu begeben, dass sie die Sonne und Wärme optimal nutzen können.
Zum Teil richten sich Schildkröten an Steinen auf und strecken sich im Winkel der Sonne entgegen, damit sie möglichst schnell diese Wärme zur Verfügung haben und „auf die optimale Betriebstemperatur“ kommen. Wie aber soll das gehen, wenn sie durch Strickmützen, -pullover etc. darin beeinträchtigt werden? Wie können und sollen sich die Tiere so aufwärmen?
Und schließlich: Diese modischen Accessoires mögen vielleicht ganz lustig ausschauen, aber sind für eine Schildkröte, die sich unter Strauchwerk verstecken möchte, einfach nur hinderlich, wenn nicht gar gefährlich. Vermutlich leben aber die bedauernswerten Tiere, denen solcher Firlefanz angetan wird, gar nicht in eingewachsenen Außenanlagen.
Wer sich nur ein wenig Mühe macht, die Biologie wechselwarmer Tiere zu verstehen, wird sofort erkennen, was für ein kolossaler Unfug also solche Strickmode ist.
Muss man das auch noch verbreiten?
Seit geraumer Zeit kursiert eine Meme von „Das Beste“ im Internet. Oft gezeigt, oft beschmunzelt, selten kritisiert. Und wenn doch, ist man eine Spaßbremse, ein humorloser Mensch und vor allem einer, der möglicherweise glaubt, dass die, die so etwas verbreiten, tatsächlich ihrer Schildkröte Strickmode überziehen bzw. sie in selbige hineinquetschen.
Mag sein, dass das diejenigen, die diese Bilder streuen, nicht tun. Die Suchanfragen auf dieser Seite und die Kommentare in sozialen Netzwerken in Gruppen, die mit artgerechter Schildkrötenhaltung wenig zu tun haben, allerdings zeigen: Es gibt mehr als genug Menschen, die solche Pullover witzig, gut und möglicherweise sogar sinnvoll finden.
So ganz abwegig ist es also nicht, zu behaupten, dass solche Bilder durchaus geeignet sind, unbedarfte, unreflektierte und wenig sachkundige Halterinnen und Halter auf blöde Ideen zu bringen.
Vollkommen fragwürdig wird es, wenn ein renommierter Fachverlag für Tierhaltung einen Kalender mit solchen Bildern über seinen Buchhandelsarm ebenfalls auf dem deutschen Markt vertreibt.
Nach der Devise „Verkauft wird, was sich verkaufen lässt und Geld bringt“ wird der Kalender „Tortoise in a Sweater 2019“ auf dem Büchertisch des Verlages auf Veranstaltungen und Börsen offeriert.
Vollkommen bedenkenlos, vollkommen vorbei am eigentlichen Sortiment und Seltbstverständnis des ambitionierten Verlages, der sich überwiegend der Fach- und seriösen Ratgeberliteratur verschrieben hat.
Mir fehlt da ein wenig das Verständnis. Es ist eine Sache, wenn man sein Sortiment intensiv erweitert, um auch an den Publikationen aus anderen Verlagen die Buchhandelsmarge einzustreichen.
Ein anderes ist es, Produkte anzubieten, die vollkommen konträr zu dem ist, was man sich selbst auf die Fahnen schreibt: Naturnahe, artgerechte Haltung.
Die Hoffnung
Hoffnung allerdings macht, dass Google unsere Seite recht weit oben listet, wenn wieder jemand nach Schildkröten und Pullovern sucht, nach Strickmode für Panzertiere etc. Regelmäßig landen auf diese Weise viele Internetnutzerinnen und -nutzer auf unserer Seite. Und vielleicht konnten und können wir einige Leser, die sich ganz unbedarft mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, davon abhalten, ein solches Produkt zu erwerben oder selbst anzufertigen.
Dann hätte sich es ja gelohnt, darüber geschrieben zu haben. Hoffen wir das Beste.
Text: Lutz Prauser. Fotos: Lutz Prauser (2), Privat (1), Screenshots (2). Alle Rechte beim Autor
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Ich finde solche Artikel wie von super wichtig. Aufklärung tut mehr als not. Leider tauchen diese Fotos von „angezogenen“ Schildkröten immer wieder auf und manch Anfänger findet die „niedlich“. Und leider ist es schlimm, wenn jemand das nachmacht und seine Schildkröte mit so einem Mäntelchen bestückt. Schildkröten sind wechselwarme Tiere, die dringend darauf angewiesen sind, sich mittels Sonne (bei tropischen Arten mit Wärmelampen) auf ihre Vorzugstemperatur aufzuwärmen und dann im Verlauf des Tages wieder langsam runterkühlt. Dies verhindert so ein Strickkostüm. Und wenn die Schildkröte mit so einem Teil durch die Badeschale läuft oder sich auch badet, wird das Teil nass und es dauert ewig, bis es wieder trocken ist, auch hier wird der natürliche Ablauf von Aufwärmen und Abkühlen extrem behindert. Auch Innengehege sollten absolut naturnah sein, also Erde, Sand und Pflanzen, Wasserschalen o.ä. . Auch hier behindert so ein Teil das artgerechte Leben von unseren Schildkröten. Sie brauche das doch gar nicht, sie sind auch so wunderschön