
Ging der Verzehr von Sumpfschildkröten zurück, boomte gleichzeitig der Verzehr einer anderen Delikatesse, der weltberühmten „Lady Curzon Turtle Soup“ in Europa. War es 100 Jahre zuvor der Adel, der den „Ton angab“, gewann im ausgehenden 19. Jahrhundert das gehobene Bürgertum als gesellschaftsprägende Schicht an Bedeutung. Entgegen der vorangegangenen Zeit manifestierte sich das zur Schau gestellte Geltungsbedürfnis des Bürgertums nicht länger in üppiger und überschwänglicher Prunk- und Verschwendungssucht. Die Raffinesse, die Liebe zum noch so kleinen Detail und die Verwendung edelster Materialien zeichnete die Kunst der Zeit aus, die Verzierungen der Gebrauchsgegenstände – letztlich auch die Kunst in der Küche. „Lady Curzon“ fand sich schnell auf der Speisekarte vornehmster Adressen – vom Hotel „Ritz“ bis zur „Titanic“.

Die „Lady Curzon Turtle Soup“ besteht aus einer klaren Brühe aus dem Fleisch der Suppenschildkröten, die heute Grüne Meeresschildkröte genannt wird (Chelonia mydas), sowie Rind- und Kalbsfuß, Gewürzen und einem Schuss Sherry, Cognac oder Madeira. Das Schildkrötenfleisch wird vor dem Servieren fein gewürfelt hinzugegeben. Am Ende wird sie noch mit Schlagsahne bedeckt, mit Curry gewürzt und kurz gratiniert.

Als Pendant für die einfacheren Bevölkerungsschichten, die sich diese Delikatesse nicht leisten konnten, entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert die „Mockturtle Suppe“ – nach gleichem Rezept hergestellt, allerdings mit Kalbfleisch statt Schildkrötenfleisch.
Die Industrialisierung machte auch vor der Nahrungsmittelproduktion nicht Halt. So fand die „Lady Curzon“ bald den Weg in die Dose und damit in die Regale der Delikatessengeschäfte, später auch der Supermärkte der Welt. Die Meere wurden im großen Stil abgefischt, die gefangenen Meeresschildkröten industriell zu Suppe verarbeitet, diese eingedost und weltweit vertrieben.
Verlagerte sich in Europa der Verzehr von Schildkröten auf Dosensuppen, rückten die Köche der Neuen Welt unter anderem den dort beheimateten Diamantschildkröten (Malaclemys terrapin) zu Leibe. Bis in die 30er Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts gab es in den USA Schildkrötenfarmen, in denen amerikanische Diamantschildkröten gezüchtet und industriell zu Dosennahrung verarbeitet wurden – zum Verzehr und zur Eiweißversorgung der Bevölkerung.

Diamantschildkröten – ursprünglich Beifang der Fischer – war ursprünglich Nahrungsmittel für die amerikanischen Sklaven. Nach und nach avancierten aber auch diese Tiere zu einer begehrten Delikatesse – besonders geschätzt von US-Präsident William Howard Taft und während seiner Amtszeit 1909-1913 fast täglich im Weißen Haus serviert.
Die arbeitsaufwändige Zubereitung mit dem relativ geringen Ertrag führte jedoch dazu, dass mit der Weltwirtschaftskrise die Tiere nach und nach von den Speiseplänen verschwanden. Hauspersonal, das die Tiere hätte zubereiten können, gab es kaum noch, man verlagerte sich auf einfacher zuzubereitende Speisen. (Brennessel, 2006; Pfau& Roosenburg, 2010).
Der Verzehr Europäischer Landschildkröten in Europa blieb eine kurze Episode, die sich auf die Zeit des Ersten Weltkriegs beschränkte. Österreichische Truppen sammelten in dieser Zeit auf dem Balkan Landschildkröten und ließen sie nach Wien transportieren. Die Tiere wurden dort zu Dosennahrung verarbeitet und zurück an die Front für die kämpfende Truppe geschickt (Philippen, 2007).
Der weltweite Konsum der Schildkrötensuppe in Dosen hielt an. Vor allem die Firma Lacroix belieferte die Supermarktketten, damit war die vormalige Delikatesse der Haute Volee zu einem Massenprodukt geworden. Das ihm anhaftende Image machte es jedoch zu etwas ganze Besonderem, das sich nun auch die mittlere Bevölkerungsschicht hin und wieder leisten konnte. Genau das machte den Reiz des Produkts aus – und damit seinen Erfolg.

Erst in den 80ern änderte sich das Bewusstsein der Gesellschaft so nachhaltig, dass die Schildkrötensuppe ins Abseits geriet. Die Verschiebung der Werte durch den immer stärker werdenden Einfluss der Ökologie- und Friedensbewegung und der damit einhergehende Umbruch in der Gesellschaft mögen ihren Teil dazu beigetragen haben. 1984 hat in Deutschland die Unternehmensgruppe Tengelmann diese Produkte ausgelistet – ebenso wie Froschschenkel. Damit lag der Konzern im Trend der Bedürfnisse der damals stetig stärker werdenden Ökologie- und auch Tierschutzbewegung.
Vor gerade einmal 25 Jahren gab es also in der westlichen Gesellschaft noch keinerlei Tabu gegenüber dem Verzehr von Schildkrötenfleisch.
Was sich mittlerweile in Europa skurril anhört oder mit Abscheu beurteilt wird, ist in vielen anderen Ländern gängige Praxis. Und zwar nicht nur in anderen Kulturen, sondern durchaus auch in denen westlicher Prägung.
2007 wandte sich der WorldWildlifeFund in einer breiten Kampagne an die Öffentlichkeit. In einer vielfach veröffentlichten Pressemeldung schrieb er damals: „Jedes Jahr sterben während der Karwoche in Lateinamerika tausende Meeresschildkröten. Schuld ist das Ammenmärchen, die bedrohten Reptilien seien wegen ihres weißen Fleisches den Fischen zuzuordnen – und damit eine in der Fastenzeit erlaubte Speise.“ (Ziegler, 2007).
Es ist nicht zu erwarten, dass sich dies seitdem wesentlich geändert hat.
Alle Meeresschildkrötenarten stehen unter strengem Naturschutz, sie sind vom Aussterben bedroht. Daher ist der Fang an der amerikanischen Pazifikküste verboten. Dennoch landen nach WWF-Schätzungen jährlich in der Woche vor Ostern allein in Mexiko 10.000 Meeresschildkröten in den Töpfen. Gleichzeitig erleiden zahlreiche Köhlerschildkröten in Brasilien ein ähnliches Schicksal. „Fangfrische Köhlerschildkröten gehören zur traditionellen Fastenspeise in Lateinamerika.“ (Neumann & Gutierezz, 2007).
Obwohl sich in der Karwoche die Situation dramatisch zuspitzt, ist auch in den übrigen Monaten der Urlaubssaison für die Schildkröten keineswegs immer Schonzeit. Schildkrötenfleisch ist immer wieder in den Restaurants zu finden. Kontrollen finden so gut wie nicht statt.
Stefan Ziegler zielte 2007 mit seiner Pressearbeit in erster Linie auf die europäischen Urlauber: „Die Meisten wissen einfach nicht, was sie mit einem Schildkröten-Bissen anrichten – oder wollen es nicht wissen.“. Anzufügen wäre: Und wenn doch, reizt sie die Neugier und das Bedürfnis, fern der Heimat etwas Außergewöhnliches, Verbotenes zu tun. Es ist das sprichwörtliche „Naschen an der verbotenen Frucht“.
Vor allem in Mexiko gelten Schildkrötensteak oder -suppe als kulinarische Spezialität. Wen wundert es, wenn die Fischer, denen der Fang einer Schildkröte bis zu 260 Euro pro Tier einbringt, sich über Fangverbote einfach hinwegsetzen?
Schließlich fällt so ganz nebenbei auch noch ein höchst lukratives Abfallprodukt an, dessen Verkauf ebenso illegal ist: Die Rückenpanzer der Meerschildkröten.

Zwar wird der Zoll immer wieder fündig, aber auch hier ist es ein weiter Weg, bis effektive Kontrollen und harte Strafen Touristen abschrecken, solche Produkte zu erwerben.
Die westliche kulturelle Prägung hat vehemente Vorbehalte gegen den Verzehr von bestimmten Tierarten hervorgebracht. Dazu zählen Hunde, Katzen und mittlerweile auch Pferde und Schildkröten. Sie bildet als kulturelle Eigenheit Nahrungstabus aus.
Die Ursachen für die Entstehung dieser Tabus sind vielfältig. Sie liegen zum Beispiel in der fortschreitenden Entfremdung zur Natur und damit in einem zunehmend emotionaleren Umgang mit Tieren, einer Entwicklung deren Wurzeln in der Romantik des 19. Jahrhunderts liegen. Erst seit dieser Zeit hat sich der Blickwinkel der Menschen auf die Tiere entschieden verändert – und damit die Wertschätzung: Sie werden nicht länger nur als nutz- und essbar bewertet, sondern sie sind Gegenstand wesentlich stärkerer emotionaler Bindungen. Damit knüpft die Romantik an die Kulturen der Antike an, an die Vergöttlichung und Verehrung von Tieren, eine Geisteshaltung, die dem abendländischen Europa durch die Christianisierung vollständig verloren gegangen war.
Je stärker sich Menschen zu bestimmten Tierarten emotionale Bindungen aufgebaut haben, je verabscheuungswürdiger erschien es ihnen, dass Menschen anderer kulturelle Prägung nichts daran fanden, genau diese Tiere zu essen – das gilt für Hinwendung zu den Tieren ebenso wie für die Verabscheuung/Ekel (bsp. gegenüber Schlangen, Spinnen u.ä.).
So emotional aufgeladen wie diese Tiere mittlerweile gesehen werden, wundert es nicht, dass in Deutschland wenn nicht mit Desinteresse, dann mit Empörung und Ablehnung auf Schildkröten im Kochtopf reagiert wird. Aber ist das auch gerechtfertigt?
Es geht nicht darum, das gezielte Bejagen und Töten der Meeresschildkröten schönzureden oder gar zu entschuldigen. Allerdings sollte man auch nicht vorschnell ein Urteil dazu bilden. Wie schnell wird das religiös motivierte, vielleicht auch zu Brauchtum verkrustete Handeln anderer Kulturen als rückständig oder unaufgeklärt diffamiert? Wie leicht tut man sich in Europa, mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf eine vermeintliche Rückständigkeit Lateinamerikas zu zeigen…
Die Gefährdung der Meeresschildkröten hat viele Ursachen. Es ist bei weitem nicht allein der Fang zum Verzehr. Man denke nur an die jahrelange industrielle Fischerei, in deren Netzen sich Schildkröten verfangen. Oder an das Zubetonieren der Strände, an denen die Schildkröten ihre Eier ablegen. Und wer ist der Nutznießer? Wäre der Druck des europäischen und nordamerikanischen Tourismus nicht so groß, und die Gier nach immer neuen Urlaubs-Ressorts nicht vorhanden, käme wohl niemand von allein auf die Idee, eine Betonburg neben die nächste zu bauen.
Bevor Europäer sich über das Schildkrötenessen z.B. in Mexiko während der hohen katholischen Feiertage aufregen, sollte man sich daran erinnern, dass die katholischen Fastengebote erst mit der abendländischen Mission nach Lateinamerika gebracht wurden. Es ist also abendländische, wenn auch untergegangene Tradition.
Natürlich müssen der Fang und der Verzehr vom Aussterben bedrohter Tierarten ein Ende haben. Aber – weil sie eben vom Aussterben bedroht sind! Und nicht, weil die Kultur, in der dies geschieht, Gewohnheiten und Traditionen pflegt, die nicht in die europäische Sicht der Dinge passen. Dabei ist es übrigens völlig unerheblich, um welche Arten es geht – ob nun Schildkröte oder nicht.
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Zitierte Literatur:
Bischöfliches Ordinariat Graz Seckau (2006): Direktorium für die liturgischen Feiern in der Diözese Graz-Seckau. – Bischöfliches Ordinariat im Auftrag des hochwürdigsten Diözesanbischofs. Graz.
Darwin, C. (2006): Die Fahrt der Beagle. Deutsch von Heike Schönfeld – Hamburg. .
Brennessel, Barbara (2006): Diamonds in the Marsh: A Natural History of the Diamondback Terrapin. – University Press of New England, 2006.
Defoe, D.: Robinson Crusoe. Deutsch von Karl Altmüller. Zitiert nach www.projekt-gutenberg.de am 06.09.2010
Kübler, T: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. In: Bild der Wissenschaft. http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/311843.html. Zitiert am 06.09.2010
Kunst, G.K. & Gemel, R: Zur Kulturgeschichte der Schildkröten unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung der Europäischen Sumpfschildkröte, Emys orbicularis (L.) in Österreich, Linz 2006.
Obermaier, K.: Sailer’sches Familien-Handbuch, München 1865.
Neumann, Christian & Gutierezz, Saúl (2007): Farming und Schutz der Köhlerschildkröten (Chelonoides carbonaria) in Venezuela. – Terraria: Nr. 7,.
Pfau, B. & Roosenburg, W (2010): Diamantschildkröten in Maryland, USA. – Radiata. 19
Philippen, Hans-Dieter (2007): Hinter den Kulissen einer slowenischen Zuchtfarm. – Draco: Mediterrane Landschildkröten. Heft 32,.
Sutte, H: Husaren der Meere. Y.online – Magazin der Bundeswehr. Zitiert am 25.12.2007
Ziegler, S.: Osterschmaus – Bedrohte Schildkröten. Presseinformation des WWF vom 03.04.2007.
http://www.wwf.de/presse/details/news/osterschmaus_bedrohte_schildkroeten/
Weitere Literatur:
Columbus, C. (1979): Das Bordbuch. Hg. Von Robert Grün. Stuttgart – Wien, 1979.
Dai, F. et al (2008): Gedanken zur Bedeutung von Schildkröten in China. – Radiata.
Gerlach, J (2005).: Schutz der Seychellen-Riesenschildkröten. Reptilia.
Köhler, H. W. (2001): Rettung der Riesenschildkröten auf Galapagos. Reptila
Köhler, H. W. (2008): Aufzucht Europäischer Landschildkröten-Babys.
www.tengelmann.de. Zitiert am 03.01.2009.
Wüthrich, F.: Homepage Emys. http://home.datacomm.ch/fritz.wuethrich/index.html. Zitiert am 03.01.2009.
Young, Peter (2006): Tortoise. London, 2006.
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