Giftpflanze? Futterpflanze? – Nachdenkliches über die Diskussionen im Internet (Teil 1)

Jedes Jahr, wenn die Europäischen Landschildkröten aus ihrer Winterstarre hervorkommen, tauchen erneut die Fragen im Netz auf: Dürfen Schildkröten diese oder jene Pflanze fressen? Gerade in der Zeit, in der verschiedene Hahnenfußgewächse wie Akelei, Scharbockskraut, Schöllkraut, der kriechende und scharfe Hahnenfuß überall sprießen, Tulpenblätter verfügbar wären, Sauerampfer aus der Erde kommt oder der erste Klee zu sehen ist, stellen vor allem Anfänger voller Sorge immer die gleichen Fragen: Ist das fressbar oder giftig?
Die Vielzahl an Pflanzen, die für Schildkröten als Futter zur Verfügung steht, ist verwirrend groß. Zwar gibt es mittlerweile mehrere hervorragende Ratgeber und Pflanzenführer, die sich nur mit diesem Thema beschäftigen und verfütterbare Gewächse vorstellen, aber die Fragen nach der Fressbarkeit verschiedenster Pflanzen reißt nicht ab. „Man lernt nur, indem man versucht, immer weitere Pflanzen zu identifizieren, deshalb immer wieder die Fragen nach einer Bestimmung unbekannter Pflanzen, die ich auch unermüdlich versuche zu beantworten“, erklärt Biologin und Buchautorin Ricarda Schramm, die selbst langjährige Schildkrötenhalterin ist und in einem Schildkrötenforum Hilfestellung gibt.
„Eben weil ich weiß, dass hier nur langsam durch wiederholte Bestimmung die Erfahrung gesammelt wird. Außerdem sitzt die Angst, eine Giftpflanze zu erwischen, sehr tief. Deshalb greifen die meisten auf 5 bekannte Futterpflanzen zurück und haben Berührungsängste mit einem Buch neue Arten kennenzulernen.“
Neben dieser Unsicherheit, was man verfüttern kann und was nicht, ergibt sich für einige Halter das Problem, wenn sich ein merkwürdiges, unbekanntes Pflänzlein im Gehege selbst ausgesät hat. Auf der anderen Seite scheint das riesige Angebot an Futterpflanzen einigen Haltern noch immer nicht auszureichen. Offensichtlich gestalten sie ihr Futtermanagement so, dass sie ihre Zimmerpflanzen wie auch den Rest ihres (Zier-)gartens als nicht endendes Futterreservoir ansehen und von Spaltenblumen bis zur Weigelie, vom Steinkraut bis zur Osterglocke alles als potentielles Futter abchecken. Hinzu kommen Pflanzen wie Schwarzäugige Susanne, Ziermohn, Hortensien etc., die gleich auf eventuelle spätere Verfütterbarkeit im Gartencenter hin ausgesucht und gekauft werden. Natürlich ist es bequemer, im eigenen Garten das Laub aller dieser Pflanzen zusammenzusuchen und zu verfüttern, als sich auf die Suche zu begeben. Ergo hagelt es im Netz, in Foren und Facebook-Gruppen Fragen über Fragen zur Fressbarkeit oder Giftigkeit –wie gesagt als gäbe es nicht Hunderte allseits bekannter und bewährter Futterpflanzen, die man im Gehege oder Garten anpflanzen oder auf Wiesen und Brachflächen sammeln könnte. Die Gründe sind also vielfältig.

Seit Jahr und Tag verlaufen die meisten Diskussionen zu diesem Thema nach dem gleichen Schema. Nehmen wir das Beispiel Tulpen:
Auf die jährlich wiederkehrende Frage, ob Schildkröten Tulpenblätter fressen dürfen, folgt umgehend die Antwort: „Nein, die sind giftig!“ oder etwas offener formuliert: „Besser nicht, sie gelten als giftig!“.
Weiter geht es – nicht immer aber oft – mit der Anmerkung einiger Halter, sie hätten Tulpen im Garten oder Gehege, noch nie hätte eines ihrer Tiere von einem solchen Blatt auch nur gekostet. Man könne sich da ganz auf den Instinkt der Schildkröten verlassen. Schließlich, so ergänzt oft ein weiterer Schreiber, seien Wildtulpen auch Habitatspflanzen. So schrieb vor einigen Jahren Sabine Willig, ebenfalls langjährige Halterin, profunde Pflanzenkennerin und Betreiberin der Seiten Pflanzenbestimmung und Schildifutter.de in einem Forum:

 

 

 

 

 

 

 

 

Es folgte von einer anderen Forennutzerin die ergänzende Anmerkung:

Darauf erwiderte Sabine Willig:

Quelle der drei Screenshots: Schildkroetenforum.com

Damit sind entscheidende Aussagen getroffen, die für die Diskussion um die Giftigkeit diverser Pflanzen beachten sollte:

1. Woher kommen die Informationen über Giftigkeit von Pflanzen?

Die meisten Angaben über die Giftigkeit von Pflanzen, die im Netz auf Seiten wie  www.giftpflanzen.com oder zum Beispiel im Standardwerk Giftpflanzen – Pflanzengifte von Lutz Roth, Max Daunderer und Kurt Kormann (s. Literliste am Ende des 2. Teils)  zu finden sind, gelten zunächst einmal für Säugetiere bzw. Menschen! Da viele Pflanzen in der Pharmakologie eine gewisse Rolle spielen, gab es zu ihrer Giftigkeit zahlreiche Tierversuche, die natürlich mit Säugetieren durchgeführt wurden. Hinzu kommen Erfahrungen aus der Veterinärmedizin, insbesondere aus der Nutztier- und Pferdehaltung. Außerdem beruft sich das oben genannte Standardwerk auf Fachartikel sowie Meldungen aus Kliniken und Giftnotrufzentralen, wenn es um die Giftigkeit für Menschen geht. Von Reptilien oder gar Schildkröten ist hier nicht die Rede.
Nun liegt es in der Natur der Sache, dass es sehr wenig gezielte Forschungen über die Verträglichkeit bestimmter Nahrung – also auch deren Giftigkeit – an Schildkröten betrieben werden. Forschung ist aufwendig und teuer, benötigt ausreichend Versuchstiere und vor allem muss das Ergebnis wissenschaftlich relevant und meistens vor allem wirtschaftlich gewinnbringend sein – was heißt: Forschung an Schildkröten findet in diesem Zusammenhang nicht statt, weil die Ergebnisse kaum monetarisierbar sind. Das ist bei Weidevieh oder Pferden anders.
Das bedeutet, dass sich die Frage nach der Giftigkeit bestimmter Pflanzenarten für Schildkröten weitaus weniger durch gezielte Forschung als durch Erfahrungen und Fallbeispiele beantworten lassen muss. Und das ist oft eher wage. Ist eine Schildkröte erkrankt oder sogar gestorben, dann muss erst geprüft werden, ob dies durch eine Vergiftung passiert ist und dann, ob diese in einem Zusammenhang mit den zuvor gefressenen Pflanzen steht oder ob es sich um eine Langzeitvergiftung handelt, bei der sich Gift über Monate oder sogar Jahre im Organismus angesammelt hat. Das aber setzt voraus, dass die gestorbenen Tiere tatsächlich seziert werden, was oft genug nicht passiert und damit wertvolle Informationen verloren gehen. Und das setzt außerdem voraus, dass der Halter weiß, was das Tier in den vergangenen Wochen gefressen hat, mal z.B. von Eibennadeln im Magen, die beim Sezieren gefunden wurden oder sehr typischen und spezifischen Vergiftungserscheinungen abgesehen.
In der Tiermedizin gibt es zahlreiche dokumentierte Vergiftungsfälle, leider aber gibt es noch viel zu wenig gesammelte und gebündelte Informationen darüber, die verständlich zu lesen sind und den Haltern zur Verfügung stehen. Aber es gibt sie: So berichten Tierärzte zum Beispiel auf Tagungen in ihren Vorträgen oft von solchen Fällen und warnen vor bestimmten Pflanzen. Einige Tierärzte haben mittlerweile gut verständliche Bücher über Schildkrötenerkrankungen geschrieben, so Petra Kölle Schildkröte – Heimtier und Patient Lutz Sassenburg Handbuch Schildkrötenkrankheiten oder Die Schildkröte in der tierärztlichen Praxis von Ursula Eggenschwiler. Das Thema Pflanzenvergiftung kommt dort eher kurz zur Sprache. Auch Futterpflanzenbücher greifen das Thema nur am Rand auf. So schreibt zum Beispiel Marion Minch in ihrem Pflanzenführer: „Da dieses Buch vor allem Futterpflanzen abhandelt, sollen keine Giftpflanzen dargestellt werden.“ Bemerkenswert in dem kurzen Absatz ist der Hinweis, dass ihr selbst ein Tier nach dem Verzehr eines Pilzes, der im Gehege wuchs, gestorben ist (Minch, S. 40).
Zu den tierärztlich dokumentieren Fällen, über die in Vorträgen zu hören und hin und wieder in Schildkrötenzeitschriften zu lesen ist, kommen die Fälle, in denen in Foren oder Facebookgruppen freimütig gesprochen wird. Leider geschieht es viel zu selten, dass  Tierhalter, sich öffentlich äußern, wenn ihnen ein Tier gestorben ist. Viele halten sich gerade im Internet sehr zurück, weil sie (wohl zu Recht) befürchten, sofort Zielscheibe massiver Kritik und zum Teil persönlich verletztender Angriffe durch andere Forenuser oder Facebook-Gruppenmitglieder zu werden, da sie schließlich eine Verantwortung dafür tragen, dass sich ihre Tiere vergiftet haben.

2. Eigendynamik digitaler Diskussionen und Empfehlungen

Wenn überall im Netz zu lesen ist, dass bestimmte Pflanzen giftig sind, dann muss das ja wohl stimmen!  Sätze wie diese sind häufig in Netz-Diskussionen zu lesen, wenn man den Wahrheitsgehalt einer Aussage hinterfragt. Nur muss nicht, was man häufig im Netz liest, zwangsläufig richtig sein.
Warum?
Viele Angaben über die Giftigkeit von Pflanzen beziehen sich zunächst nicht auf Reptilien (s. oben und Teil 2). Sie wurden trotzdem irgendwann mal ins Netz gestellt. Zumeist findet man auf Seiten, auf denen Schildkrötenhalter ihre Haltung vorstellen und gleichzeitig Empfehlungen für andere Halter abgeben, seitenlange Listen von Pflanzen, die giftig für Schildkröten sind oder dafür gehalten werden. Meist findet man diese unter den Futterempfehlungen. Irgendwann verselbständigen sich solche Angaben. Je schneller und je häufiger das geschieht, umso glaubwürdiger werden sie am Ende angesehen. Da es allemal leicht ist, Google zu bemühen und wenn es dann schon eine immense Zahl an Einträgen zum Thema gibt, ist das für Viele ein gutes Indiz: Diese Pflanze muss einfach giftig sein. Das sagen schließlich alle. Informationen werden als verlässlich und glaubwürdig angesehen, ohne dass dem so sein muss.
Das gilt ganz allgemein für alle Bereiche der Tierhaltung, also auch für Schildkrötenhaltung und -ernährung. Beste Beispiele in diesem Zusammenhang sind gebetsmühlenartig wiederholte Giftwarnungen vor Pflanzen, wie sie im Habitat vorkommen, von Schildkröten auch in heimischen Gehegen gern gefressen werden, ohne dass auch nur ein einziger Vergiftungsfall dokumentiert wurde, was allerdings noch kein Beweis darstellt, dass die betreffende Pflanze tatsächlich giftig oder ungiftig ist! Pflanzen wie Ginster fallen ebenso unter Generalverdacht wie verschiedene Hahnenfußartige, von denen einige wohl zurecht als sehr giftig eingstuft werden, andere hingegen nicht und trotzdem wird ununterbrochen davor gewarnt, diese Arten zu verfüttern. Das gilt zum Beispiel für die Akelei. Ebenso wird reflexartig bei vielen Pflanzen eine Warnung ausgesprochen, die eine hohe Oxalatkonzentration in sich tragen – oft wird dabei einfach nur wiederholt, was man anderswo selbst schon zig mal gelesen hat, selten, dass sich mal jemand die Mühe macht, dieser Fragestellung nachzugehen. Weinlaub ist das beste Beispiel dafür.  Ein Klassiker ist auch die Empfehlung, man könne mit Eierschalen, die man den Schildkröten anbietet, effizient deren Calciumversorgung verbessern. Macht man sich die Mühe, genauer hinzuschauen, stellt man schnell fest, dass viele dieser „Lehrsätze“ oder „Binsenweisheiten“ nur bedingt richtig sind – oder gänzlich falsch.
Nun muss nicht alles falsch sein, was im Netz steht, aber eben auch nicht alles richtig.  Denn die Kenntnisse über gute Haltung entwickeln sich weiter, es kommen neue Erfahrungen hinzu, auch mittlerweile Langzeiterfahrungen  – und hin und wieder erscheinen wissenschaftliche Untersuchungen über Schildkröten, die Haltungsparameter von Grund auf in Frage stellen. Viele Seiten im Netz werden aber nicht oder nur unzureichend aktualisiert und es gilt leider nach wie vor: Wenn alle das sagen, dann muss es doch stimmen. Ein kritischer Umgang mit „Informationen“ und Ratschlägen ist immer gut, aber leider noch viel zu selten.

 

Teil 2 folgt am kommenden Freitag.

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