Sucht man nach Schildkröten in den uralten Mythen, dann wird – zumindest für den nordalpinen Raum – diese Suche erfolglos bleiben. In den Mythen der Germanen und Kelten spielen Schildkröten, soweit wir das bis heute wissen, keine Rolle, anders als zum Beispiel in den Mythen nordamerikanischer oder asiatischer Kulturen. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn sowohl in Nordamerika als auch in Asien dürften Schildkröten durch ihre Artenvielfalt und durch ihre wesentlich größere Präsenz im alltäglichen Leben der Menschen eine deutlich größere Rolle gespielt haben als im nordeuropäischen Raum, der gerade mal eine einzige Schildkrötenart beheimatet.
Bei der Ausbildung der Mythen, die die Entstehung und die Zusammenhänge der Welt erklären, dürften die Alltagsbeobachtungen der Menschen archaischer Kulturen eine entscheidende Rolle gespielt haben und dazu gehören eben auch die Tiere.
Und wenn Schildkröten, schon wegen ihrer Artarmut, in den frühen Kulturen nördlich der Alpen anders als Bären, Wölfe oder Raben, nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie weder in den Weltschöpfungsmythen auftauchen, noch den Gottheiten als Begleiter zugeordnet sind.
Ihre Bedeutungslosigkeit führt dazu, dass sie auch nicht auf verzierten Gebrauchsgegenständen oder Waffen zu finden sind.
Schnell könnte man also die Frage überspringen, ob Schildkröten nördlich der Alpen überhaupt eine mythologische Rolle gespielt haben, gäbe es da nicht das so genannte Schamanengrab von Bad Dürrenberg.
Hierbei handelt es sich um eines der ältesten Gräber, das auf deutschem Boden gefunden wurde. Lange vor der Zeit der Kelten und der Germanen wurde im 6. Jahrtausend vor Christus in der Nähe von Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt eine Frau zusammen mit einem Säugling bestattet.
Die 25-35jährige „besondere Frau“ lag mit einem 6-12 Monate alten Kind in einer noch 30 cm mächtigen Verfüllung aus roter Mineralerde bestattet. Ihre Beisetzung erfolgte vor 9.000 – 8.600 Jahren isoliert im Gelände. Das überreiche Beigabeninventar bezeugt eine gesellschaftliche Sonderrolle der Toten. Bemerkenswert ist die enorme Vielfalt der im Grab repräsentierten Tierarten, die nicht alle nur Nahrungsvorrat für das Jenseits sein sollten. Ethnographische Vergleiche legen nahe, dass manche Objekte als Requisiten schamanistischer Praktiken zu deuten sind, so das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Sachsen-Anhalt.
Zu diesen Grabbeigaben gehörten auch Panzerbruchstrücke von mindestens drei Europäischen Sumpfschildkröten. Da weitere Skelettteile von Schildkröten fehlen, liegt die Vermutung nahe, dass keine vollständigen, möglicherweise sogar lebenden Tiere als Nahrungsmittel dem Grab beigegeben wurden, sondern nur deren Panzer. Das wiederum erlaubt die Vermutung, die Panzer könnten tatsächlich für eine rituelle oder schamanistische Praxis gedacht gewesen sein.
Dass der Verzehr von Schildkröten bis in archaische Zeiten zurückreicht, belegen Funde einer Grabungsstätte im Norden Israels. Bei den Ausgrabungen von etwa 12.000 Jahre alten menschlichen Relikten fanden sich Überreste von zahlreichen Tieren, ein Zeichen für eine größere Festivität. Der Anlass war höchstwahrscheinlich eine rituelle Beerdigung: „Zu den Überbleibseln gehören Panzer und Knochenteile von rund 71 Schildkröten und drei Rindern – eine für diese Zeitperiode ungewöhnlich hohe Zahl derartiger Hinterlassenschaften an einem Ort.“, berichtete Theresa Kübler 2010 in Bild der Wissenschaft. Dabei entdeckten die Wissenschaftler „Kratz- und Schneidespuren in den versteinerten und zum Teil zerlegten Knochen. Diese weisen darauf hin, dass die Tiere geschlachtet und gekocht wurden.“
Die Funde in Bad Dürrenberg sehen allerdings ganz anders aus. Dennoch fehlen weitere Hinweise, die auf eine schamanistische, rituelle Verwendung von Schildkröten oder Schildkrötenteilen hinweisen könnten. Sie wiederholen sich auch nicht in den Gräbern aus der Keltenzeit.
Es lässt sich auch nicht mehr ergründen, welche Riten vollzogen worden sind, welchen Zweck sie verfolgen und welche Funktion Schildkrötenpanzer in ihnen gespielt haben könnten. Es ist zwar naheliegend, dass die drei Panzer als Rasselkörper gedient haben, wie es Susanne Vogel in ihrem Buch Die Schildkröten in ihrer Mythologie und weltweiten Verbreitung (München 2011) vermutet, mit Sicherheit lässt sich dies aber nicht sagen.
Eine andere Vermutung äußert Svend Hansen in Archäologische Funde aus Deutschland (Berlin 2010).
Zu den Beigaben, die der Toten ins Grab gelegt wurden, gehören mehrere Feuersteinklingen, zwei Knochennadeln, eine Geweihhacke, ein geschliffenes Steinbeil und mehrere Schmuckplatten aus Hauern des Wildschweins. Daneben fanden sich zwei Knochen eines Kranichs, ein Knochen eines Bibers, eines Rothirschs, 16 Schneidezähne des Rothirschs, zwei zusammenpassende Schädelfragmente mit Geweih von einem Reh, Panzerbruchstücke von mindestens drei Sumpfschildkröten und 120 Fragmente von Flussmuscheln. In einer Hülse aus Kranichknochen fanden sich 31 sehr kleine Feuersteinklingen.
Aus all diesen Funden haben die Archäologen einen besonderen Köperschmuck für die Schamanin rekonstruiert. Aus der Lage der Tierteile schließen sie, dass die Schamanin in einem speziellen Ornat bestattet wurde. Ob die Schildkrötenpanzerstücke aber auch dazu gehört haben, bleibt ebenfalls Spekulation.
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