Natürlich ist Gras böse und der natürliche Feind aller Schildkrötenhalter, wenn vielleicht auch nicht der größte.
So will es das Gesetz.
Und Gesetz ist – wer wüsste es nicht? – was heute in den sozialen Medien (früher den Foren) nur laut, nachdrücklich und mit großer Vehemenz verbreitet wird. Das gilt auch für Schildkrötengruppen. Und wenn es nicht die Vehemenz ist, dann die Penetranz, also die Häufigkeit. Wenn man nur was oft genug gelesen hat, dann ist das so. Punkt! Aus!
Das gilt auch für Gras. Jede Frage, ob Gras aus dem Gehege heraus müsse, wird in kürzester Zeit mit einem „Ja!“ beantwortet. „Unbedingt! Am besten, die Grasnarbe abtragen. Mindestens die oberen 20 Zentimeter…“
Dem folgt nicht selten das intensive Klagen anderer Gruppenmitglieder, wie anstrengend der Kampf gegen das penetrant nachwachsende Zeugs ist.
Begründet wird das Ganze mit „Gras ist zu lange nass!“ oder etwas präziser: „Gras hält die Feuchtigkeit im Boden, feuchte Böden sind kühler/kälter wegen der Verdunstung, das ist nicht gut für die Tiere!“
Soweit richtig.
Doch dann folgt nahezu zwangsläufig eine kolossale Verkürzung, wie so oft im Netz. Das Gras muss raus. Was soviel bedeutet: In jedem Fall muss das Gras raus und zwar alles. Radikal. Schließlich sagen das alle. Man liest das überall im Netz.
Gelegentlich wirft dann einer ein, im Habitat wachse schließlich auch Gras. Auch soweit richtig. Trotzdem oder gerade deshalb sollten wir uns das genauer anschauen.
Es gilt also, näher hinzuschauen. Näher auch, weil aus dem Postulat „Das Gras muss weg!“ in all seiner Verkürzung eine stehende Formel geworden ist, die Gehegebauer erst versuchen, konsequent umzusetzen und sich dann die Haare raufen, wenn doch plötzlich wieder Halme zum Vorschein kommen. Da wird darüber sinniert, eine wachstumshemmende Flies-Decke ins Gehege einzuarbeiten, was natürlich auch das Wachstum begehrter Futterpflanzen zunichte macht oder zumindest empfindlich stört. Andere denken über den Einsatz von Unkrautvernichtern nach, die angeblich nur den Spitz- und den viel häufiger vorkommenden Süßgräsern zu Leibe rücken sollen. Dass sich das aber von selbst verbietet, bedarf wohl keiner weiteren Erklärung.
Anfang 2018 stellte ich eine Wiese im kroatischen Galovac vor, zweifelsohne ein Schildkröten-Eldorado. Vergleichen wir diese Wiese in in Dalmatien mit einer Wiese in Bayern in der gleichen Jahreszeit:
Das obere Bild ist im Juni 2016 gemacht worden. Im Juni 2021 habe ich eine Wiese auf einem freien Grundstück in unserem Dorf in der Nähe von München aufgenommen – extra für diesen direkten Vergleich.
Die Unterschiede sind eklatant. Und das ist nicht die Ausnahme, das ist immer so.
Ich erwähne zunächst die Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen wachsen das Gras und diverse Kräuter ungestört auf einer Lehmschicht. Damit hört es aber schon auf.
Die Unterschiede sind hingegen groß und folgenreich.
Zunächst die Niederschläge. Während die Wiesen im Süden in den Habitaten sich unter der zunehmenden Trockenheit rapide verändern, zählt hierzulande der Juli zu den niederschlagsreichsten Monaten – vor allem im Alpenvorraum, wenn die von Nordwesten oder im selteneren Fall von Nordosten herangezogenen Wolken sich an den Bergen stauen und abregnen. Die Starkregen und die vielen Gewitter halten die Böden relativ feucht und damit das Gras zumindest in unserer Region permanent saftig und grün. In anderen Regionen Deutschlands ist das freilich nicht (mehr) der Fall. Ein Blick auf den Dürremonitor Deutschland vom Helmholtzzentrum für Umweltforschung bestätigt, dass vor allem in den östlichen Landesteilen die Dürre zu einem großen Problem wird – wobei hier die Schicht von etwa 1,8 m relevant ist.
Der nächste Unterschied: Unter der dünnen Erdschicht befindet sich in den Mittelmeerländern oft karstiger Steinboden und Felsen, der, weil zumeist aus Kalkstein, sehr wasserdurchlässig nach unten ist. Oberflächenwasser wird also schnell nach unten abgeführt.
Das ist hierzulande in einigen Regionen auch so, zum Beispiel bei den sandigen Böden wie z.B. im Raum Berlin oder in Franken, aber auch zum Beispiel in der Heidelandschaft der Münchner Schotterebene. In solchen Milieus versickert das Wasser sehr schnell und steht damit den Pflanzen kaum zur Verfügung. Auch das sich bildende Erdreich wird durch den Regen immer wieder „davon geschwemmt“. Die Böden sind trocken und nährstoffarm, auf diesen Mager-, Kalk- und Schotterflächen wächst sehr wenig, bzw. vornehmlich die Pflanzen, die sich darauf spezialisiert haben
Für mich ist es sehr spannend zu beobachten, wie wenige Kilometer voneinander entfernt sich sehr unterschiedliche Lebensräume entwickelt haben. Ich wohne sehr nah an der Grenze der Münchner Schotterebene und kann Art und Wachstum der Pflanzen in den Heiden dort mit denen im Erdinger Moos (wasserreiche, ehemalige Moorlandschaft mit nährstoffhaltigem Boden) unmittelbar vergleichen.
Fröttmaninger Heide in München Ende Mai:
Wilde Wiesen in unserer Nachbarschaft zum gleichen Zeitpunkt:
Und damit sind wir beim dritten Stichwort: Der Nitratgehalt der Böden, der Nährstoffgehalt, der durch die intensive Landwirtschaft ebenso gefördert wird, wie durch das Düngen in den Gärten. Das alles lässt es wachsen und wachsen und wachsen. Je wasserdurchlässiger die Böden sind, umso schneller „verschwinden“ Nitrate als Nährstoffe in tieferen Regionen und sind für Pflanzen nicht mehr erreichbar. Was nicht heißt, dass sie verschwunden sind, die übermäßigen Nitratausbringungen in Deutschland, die Belastungen und Veränderungen der Umwelt dadurch sind ein ernstzunehmendes Problem, das sich bis in die Küstengewässer fortpflanzt. Denn die Nitratanreicherung sowie Erwärmung lässt auch die Küstenregionen zunehmend „verkrauten“, mit dem Effekt, dass das Wasser weitaus weniger lichtdurchlässig wird als zuvor, was wiederum das Algenwachstum beschleunigt und gleichzeitig den Lebensraum angestammter Tier- und vieler Pflanzenarten massiv verändert, wenn nicht zerstört. In Binnengewässern ist das nicht anders.
Aber zurück zum Boden.
Hält das Erdreich das Wasser und die Nährstoffe in für Pflanzen erreichbaren Schichten fest, wächst alles umso mehr. Auch das „böse, böse“ Gras. Ein entscheidender Effekt der intensiven Landwirtschaft in unserer Region und ein Unterschied zu den Habitaten von Landschildkröten.
Text und alle Bilder: Lutz Prauser. Alle Rechte beim Autor.