Von Dominik Hauser
Ein Dreiteiler
Teil 01: Veröffentlicht am 22.02.2021
Teil 02: Veröffentlicht am 01.03.2021
Teil 03: Veröffentlicht am 08.03.2021
Abb.: Eine Breitrandschildkröte in ihrem natürlichen Lebensraum am Olymp. Der Haufen auf der rechten Seite weist bereits auf die „vergessenen Landschaftsgestalter“ hin.
Beschäftigt man sich in Europa mit heimischen Tier- und Pflanzenarten oder sogar dessen Schutz, stößt man früher oder später auf einen gewissen Widerspruch. Zum einen lernt man schon während der Schulzeit im Geographieunterricht dass sich ohne den menschlichen Einfluss überall in Europa ein geschlossener Wald befinden müsse.
Auch wird der Waldschutz, gerade in Zeiten des Klimawandels, in der Bevölkerung und von Natur- und Umweltschutzverbänden überall gefordert.
Zum anderen findet man aber nahezu alle heimischen Arten nur in vom Menschen in irgendeiner Art und Weise beeinflussten Landschaften. Wirklich geschlossene Wälder stellen sich über fast alle Tier- und Pflanzengruppen hinweg als auffallend artenarm dar.
Im Naturschutz in Deutschland werden Arten aufwändig durch ständige gezielte Pflegeeinsätze erhalten. Hierzu dienen meist Mähwerk, Bagger, Motorsäge und Co.
Die eine Frage, nämlich wie all die heimischen Tier- und Pflanzenarten über Jahrtausende zuvor ohne den Menschen überleben konnten, geistert dabei wohl jedem sofort durch den Kopf.
Durch die Beschäftigung mit den eher sonnenhungrigen Amphibien und Reptilien war diese Frage für mich besonders relevant geworden.
Denn ich fand die von mir so geliebten Tiergruppen überhaupt nicht im geschlossenen Wald sondern in alten Kiesgruben, auf Kahlhiebsflächen oder entlang der sonnigen Waldwege.
Dass die nachfolgenden Erkenntnisse zur Naturlandschaft in Europa, die durchaus schon länger bekannt sind, auch in der Amphibien und Reptilienfachwelt nicht den Bekanntheitsgrad besitzen, den sie eigentlich verdienen, hat mich zum Schreiben dieses Artikels angeregt.
In vielen Büchern und Internetseiten zum Thema Europäische Landschildkröten findet sich die Aussage dass unsere Schildkröten ursprünglich Waldbewohner seien. Erst der Mensch habe die ehemals flächendeckenden Wälder im Mittelmeerraum, vor allem zum Schiffsbau, abgeholzt. Heute leben die Schildkröten demnach in suboptimalen, degenerierten Lebensräumen und es ist schwierig noch letzte Populationen in ihrem ursprünglichen Lebensraum zu finden um Rückschlüsse auf Ihre Haltung und natürliche Lebensweise ziehen zu können.
Nun ist die Aussage mit dem Wald nicht unbedingt falsch, warum aber „Wald nicht gleich Wald“ ist, und der Mensch heute eine wichtige Rolle für den Fortbestand der Schildkröten im Mittelmeerraum spielt, soll im Folgenden etwas näher erläutert werden.
Abb.: Durch Ziegenbeweidung offen gehaltene Lichtung mit gutem Bestand von T. hermanni boettgeri in Nordgriechenland umgeben von einem geschlossenen Hartlaub-Eichenwald ohne Schildkrötenvorkommen.
Wie sähe nun eine vom Menschen unberührte Naturlandschaft im Mittelmeerraum aus? Wie nahezu überall in Europa, wo es das Klima nur irgendwie zulässt, strebt die Vegetation auch im Mittelmeerraum nach einer „Störung“ über verschiedene Sukzessionsstadien aus zunächst krautiger Vegetation über Buschwerk hin zu einem dicht geschlossenen Wald. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als Sukzession. Im Endstadium des geschlossenen Waldes findet sich durch den Kronenschluss nahezu keine krautige Vegetation mehr am Boden. Das Endstadium wird als sogenannte Klimaxvegetation bezeichnet. Sie besteht oft nahezu nur noch aus einer einzigen dominanten Baumart.
Im Mittelmeerraum kommen je nach Boden und Kleinklima unterschiedlichste Formen dieser Klimaxvegetation vor. So würden im sandigen Küstentiefland meist Kiefernarten wie die Pinien den Abschluss bilden. Im Inland sind es oft hartlaubige Eichenarten wie die Kermeseiche oder die Steineiche.
Die buschige Macchie oder Garrigue die demgegenüber extrem artenreich ist, wird noch immer gerne als anthropogene Degradationsform einer ehemaligen Rodung und Übernutzung (Beweidung) im Mittelmeerraum gesehen (siehe z.B. die entsprechenden Wikipedia Artikel). Woher all die Pflanzenarten ursprünglich stammen sollen bleibt offen.
Tatsächlich ist das, was wir allgemein als Macchie oder Garrigue bezeichnen, die buschige Übergangsform zur Klimaxvegetation, also das ganz normale Sukzessionsstadium im Mittelmeerraum und kann sich nur dort längerfristig halten, wo durch Feuer, Beweidung oder Rodung eine gewisse Dynamik mit laufender „Störung“ vorherrscht. Bei uns in Mitteleuropa gibt es dieses Übergangsstadium übrigens auch. Hier besteht es aus typischen Arten wie der Brombeere, der Schlehe, dem Weißdorn oder der Haselnuss. Alles Arten, die heute gerne in artenreichen Feldhecken gepflanzt werden. In einem verdunkelten Wald findet man sie nicht mehr.
Der Übergang zum Wald verläuft auf flachgründigen und felsigen Böden, wie sie im Mittelmeerraum häufig sind, naturgemäß langsamer, weshalb sich diese Übergangsform stellenweise recht lange halten kann.
Meist waren es landwirtschaftlich genutzte Flächen auf denen sich die Macchie heute finden lässt zum Beispiel extensive Viehweiden.
Die meisten Fundorte von Landschildkröten der Gattung Testudo finden sich nach meiner Erfahrung interessanterweise ebenfalls in vom Menschen in irgendeiner Art beeinflussten Flächen.
So sind es oft die extensiven Weideflächen der freilaufenden Ziegen, Schafe und Rinder, in denen man Schildkröten findet. Da die Weidetiere offensichtlich den gleichen Lebensraum und die gleiche Futtergrundlage wie unsere Schildkröten beanspruchen, wird dann auch gerne von „Beweidung“ als wesentlicher Gefährdungsfaktor gesprochen. Das ist leider so falsch wie letztendlich gefährlich für unsere Schildkröten, sollten daraus Ideen für deren Schutz abgeleitet werden.
Abb.: Schafe in einem intakten Lebensraum Griechischer Landschildkröten.
Abb.: Ziegen wurden bereits etwa 9000 J.v.Chr. in Vorderasien aus der Bezoarziege domestiziert.
Abb.: Das Prespa-Zwergrind, eine uralte vom aussterben bedrohte Rasse aus dem Dreiländereck Griechenland, Mazedonien und Albanien.
Tatsächlich haben sich alle Arten der Gattung Testudo quasi in Coevolution mit großen Pflanzenfressern entwickelt und nach Jahrtausenden der gemeinsamen Existenz wird erst in den letzten Jahrzehnten durch Nutzungsänderungen diese Gemeinschaft gefährdet.
Wie in ganz Europa lebten im Mittelmeerraum unzählige Großherbivoren wie Auerochse, Wisent, Wildpferd oder auch die Wildziege. Darauf weisen nicht nur unzählige Knochenfunde hin, die stellenweise sogar auf recht hohe Dichten von Pflanzenfressern schließen lassen, sondern auch die bekannten Höhlenmalereien unserer Vorfahren.
Während kleinere Arten wie Rotwild, oder Wildziege lokal noch immer vorkommen, starben die größeren Tiere in der Natur durch den Menschen zunächst aus. Der letzte Auerochse starb vermutlich um das Jahr 1627 in Polen, womit diese Tierart ausgerottet war. Die letzten Wisente (europäisches Bison) wurden erst um das Jahr 1927 im Kaukasus erlegt. Sie haben jedoch zum Glück in Zoos überlebt. Im Mittelmeerraum starben diese Großtiere durch die frühe, intensive Besiedelung durch den Menschen bereits zuvor aus.
Erdgeschichtlich sind diese Zeiträume ein Augenaufschlag, gerade für unsere Schildkröten.
Mit der Ausrottung in der Natur blieb der Einfluss großer Pflanzenfresser trotz allem erhalten. Denn bereits mehrere tausend Jahre vor ihrer Ausrottung wurden ebenfalls im Mittelmeerraum (meist in der Türkei) unsere heutigen Hausrinder, Hausziegen und andere Nutztierarten aus diesen Wildformen domestiziert, also zu Haustieren gemacht. Diese Nutztiere ersetzen mit ihrem identischen Fraßverhalten die Wildformen in hervorragender Weise. Vom Menschen wurden sie seit damals in hoher Dichte im Mittelmeerraum, wie sogar heute noch üblich frei lebend, gehalten. Damit haben die Auswirkungen der großen Pflanzenfresser auf den Lebensraum der Europäischen Landschildkröten bis heute durchgehend bestanden.
Dass der Mittelmeerraum durch große Pflanzenfresser geprägt ist, kann man bereits an den typischen Anpassungen der Macchiapflanzen erkennen. So weisen unzählige Arten wie die Stechwinde (Smilax aspera), der Mäusedorn (Ruscus aculeatus) oder der Christdorn (Paliurus spina-christi) Stacheln als Fraßschutz gegen große Pflanzenfresser auf. Auch ätherische Öle sind nicht nur ein Schutz gegen Verdunstung, sondern schützen hervorragend vor dem Verbiss durch Pflanzenfresser.
Abb.: Mäusedorn und Christdorn bleiben aufgrund ihrer Wehrhaftigkeit auf dieser Weide stehen und dienen einer Griechischen Landschildkröte als Nachtversteck.
Wird kommende Woche fortgesetzt!
Text und alle Bilder: Dominik Hauser. Alle Rechte beim Autor