Auf Schildkrötensafari mit Elke Wallrapp (Folge 84)

Unsere Schildkrötensafari startete in diesem Jahr in Siena und wird mit einem weiteren Bericht von Siena enden.

2013 besuchte ich das erste Mal diese außergewöhnliche Stadt. Es war Anfang Juli und der erste Palio war gerade vorbei. Einige Kostüme hingen noch auf den Wäscheleinen in den Hinterhöfen der kleinen Gassen, und ab und zu entdeckten wir noch eine Kontradenfahne.
Die Stadt war ruhig und wirkte beschaulich, die meisten Touristen waren schon weg. Es war sehr heiß und so konnten wir uns ausgiebig mit dem prächtigen Dom (Cattedrale Metropolitana di Santa Maria Assunta), seiner fantastischen Fassade und den grünweiß gestreiften Außenwänden beschäftigen.
Natürlich stand auch eine Innenbesichtigung an und wider erwartend entdeckten wir dort einige Schildkrötendarstellungen, die nicht im Zusammenhang mit der „Contrada della Tartuca“ stehen.

Gleich hinter dem Hauptportal (heute befinden sich dort Sicherheitsschranken) stehen beidseitig zwei aufwendige und fantasievoll gemeißelte Weihwasserbecken aus Carrara – Marmor. Sie wurden von „Antonio Federighi“ (1420-1483), einem italienischen Architekten und Bildhauer, um 1465 geschaffen. Für uns ist das rechte Becken von Interesse, denn hier können wir gleich mehrere Schildkröten entdecken.
Auf einer runden Marmorplatte, die leicht in den Boden eingelassen ist, steht das Becken, das an einen Kerzenleuchter erinnert, auf vier Raubtierpfoten.
Drei Gefangene („Prigioni“), die den menschlichen Geist darstellen, der zum Sklave seiner Leidenschaft und seiner niederen Instinkte geworden ist, stehen auf einem Sockel. Zwischen ihren Füßen befindet sich jeweils eine Landschildkröte.
Es sieht so aus, als tragen die drei Schildkröten den reich verzierten Schaft des Beckens.
Das Becken ist bauchig und mit Längsrillen, Girlanden, Cherubinköpfen und Delfinpaaren dekoriert und ruht ebenfalls auf drei Landschildkröten.
Diesmal sind nur die Panzer und die Hinterbeine übrig – der Rest ist nicht mehr zu erkennen. Unheimliche Tiere – Bestien oder Drachen zerren das Innere der Schildkrötenpanzer heraus und verschlingen es.
Soll hier der Satan, das Böse und die Sünde dargestellt werden, (laut dem christlichen Bestiarium durch Drachen dargestellt)?
Symbolisieren die Schildkröten hier ein Laster der Menschheit, nämlich die Faul- und Trägheit?
Fest steht, dass durch dieses Weihwasserbecken die Gläubigen gleich beim Betreten des Doms dazu ermahnt werden, einen tugendhaften Weg im christlichen Glauben zu beschreiten!

Berühmt ist der Dom von Siena auch für seinen kunstvoll gestalteten Fußboden. Über 50 Marmorplatten mit Einlegearbeiten aus farbigem Marmor und schwarz gefüllten Gravuren schmücken ihn. Es werden religiöse Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, allegorische, bürgerliche und philosophische Motive, aber auch Darstellungen aus der Antike oder solche, die die Stadt Siena betreffen, gezeigt.
Und in einem großen prachtvollen Mosaik im Hauptgang (das vierte vom Hauptportal aus) entdecken wir erneut eine Schildkröte.
Dieses Mosaik mit dem klangvollen Namen „Allegorie des Berges der Hoffnung“ (oder auch der Weisheit), wurde von dem berühmten Renaissance Maler „Bernardino di Betto di Biagio“ (um 1452-1513), genannt „Pinturicchio“, circa 1505 entworfen und von einem anderen Künstler (Paolo Manucci ?) gestaltet.
Pinturicchio arbeitete währenddessen an der „Piccolomini-Bibliothek“.
Das Mosaik zeigt Fortuna als eine nackte Frau mit Segel (ihre Darstellung symbolisiert die Unbeständigkeit) und eine Gruppe von Weisen, die den „Hügel der Weisheit“ betreten hat. Sie folgen einem steilen Pfad nach oben, der von allerlei Steinen, Getier und kleinen Pflanzen gesäumt wird. Wir können Schlangen und auch eine kleine Schildkröte erkennen, beide deuten auf die Laster der Menschen hin.
Auf der Spitze des Berges sitzt eine weitere Frau. Sie symbolisiert die Weisheit und hält in ihren Händen ein Buch und eine Siegespalme.
Flankiert wird sie von Sokrates und von Krates von Theben, der einen Korb voller Juwelen und Münzen ins Meer leert (Symbol des Verzichts auf das illusorische Glück des materiellen Reichtums). Eine umrahmte Inschrift weist auf die Botschaft dieses Mosaiks hin „Tugend kann erreicht werden, aber mit Schwierigkeiten“.

Das absolute „Highlight“ des Doms ist die berühmte „Piccolomini-Bibliothek“, die sich auf der linken Seite des Doms befindet. Sie wurde 1492 von Kardinal „Francesco Todeschini Piccolomini“ (später Papst Pius III.) zu Ehren seinen Onkels Pius II. errichtet.

Zwischen 1502-1507 wurde sie von „Pinturicchio“ und seinen Gehilfen gestaltet. Hier befinden sich einzigartige Fresken, die das Leben des späteren Papstes darstellen (insgesamt zehn Szenen) und eine große Sammlung von wunderschönen Chorbüchern.

Nur wenige Besucher gleichzeitig dürfen den kleinen Raum betreten. Was ein Glück! Denn von der Fülle der Farben und der Vielseitigkeit der Bilder sind wir erst einmal gefesselt. Es dauert eine Weile bis wir die Schönheit und jedes Detail realisiert haben. Ein Blick zur Decke lohnt sich auf jeden Fall, denn hier befindet sich unsere letzte Schildkröte. Diesmal habe ich sie nicht gleich entdeckt, sondern wurde von einer Mitreisenden darauf hingewiesen. „Elke, schau mal, da ist eine Schildkröte“ und selbst dann habe ich sie noch nicht gleich gesehen – zu fasziniert war ich von dem Gesamtkunstwerk.
Das Deckengewölbe zeigt eine große rechteckige Bemalung mit acht Bildern an der Längsseite. Hier werden Satyre, Nymphen und Tritonen dargestellt. Zwei große Bilder zeigen den Raub der Proserpina, Diana und Endymion und in der Mitte befindet sich das Wappen der Familie Piccolomini. Die vier Felder der schmalen Seite zeigen Frauengestalten, die vier der Tugenden symbolisieren. Es sind die Nächstenliebe, der Frieden, die Weisheit und die Wahrheit.
Und in einem dieser Bilder ist auch unsere Schildkröte zu finden.
Leider gibt es keinen Hinweis darauf, zu welcher Tugend sie gehört. Zwei der Bilder lassen sich eindeutig der Nächstenliebe und dem Frieden zuordnen. Übrig bleiben die Wahrheit und die Weisheit. Spontan dachte ich, dass die Schildkröte die Weisheit begleitet, aber ist das wirklich so? Denn eine Frauengestalt erinnert in ihrem Aussehen sehr stark an Minerva, die Göttin der Weisheit, und somit bleibt diese Frage ungelöst.

Auch im August des letzen Jahres beinhaltete das Reiseprogramm eine Besichtigung des Doms. Da der Palio noch bevor stand und die Siegesfeier im Dom stattfindet, werden die wunderbaren Bodenfliesen zum Schutz vor den vielen Menschen abgedeckt. Eine ausführliche Besichtigung aller Schildkröten empfiehlt sich daher zu einem anderen Zeitpunkt.

Es war ein ungewöhnliches Jahr – ein paar tolle Reisen und auch ein neuer Besuch im Schildkrötendorf in Carnoules, Frankreich, waren geplant. Reisen, die gar nicht so weit weg führen sollten, aber trotzdem nicht stattfanden, sondern dem Lockdown und den wiederkehrenden hohen Covid-19 Infektionszahlen zum Opfer fielen.
Sie sind tatsächlich nur aufgeschoben und werden bald nachgeholt – ich glaube fest daran!
So haben wir uns im Sommer darauf beschränkt, hier in der näheren Umgebung einige „alte“ Schildkrötenfunde neu zu entdecken. So manche Überraschung erwartete uns.

Das nächste Jahr führt uns zu acht Schildkrötendarstellungen, die alle nicht weiter als 200 Kilometer vom Rhein-Main Gebiet entfernt liegen. Wir werden viele Brunnen besuchen, mehrmals meinem Lieblingskünstler „Ivan Theimer“ begegnen und für vier Monate kleine Abstecher nach Frankreich und Spanien unternehmen.
Ich hoffe, dass ich Sie mit meinen Schildkrötenfunden aus dem öffentlichen Raum auch im nächsten Jahr unterhalten kann.

Text und alle Bilder: Elke Wallrapp. Alle Rechte bei der Autorin